Realität und Objektivität

Gibt es eine vom Beobachter unabhängige Realität? Bezieht sich der Begriff «Atom» auf eine vom Beobachter unabhängige Wirklichkeit oder nur auf einen Satz von Experimenten? Falls «Atom» sich bloss auf einen Satz von Experimenten bezieht, warum funktioniert dann der übliche objektivistische Gebrauch dieser Begriffe so gut?

Biologen, Physiker, Chemiker und andere Vertreter der Naturwissenschaften kommen in allen Kulturen im wesentlichen zu den gleichen Ergebnissen. Das legt den Schluss nahe, dass solches Wissen absolut und objektiv sei. Ist der Schluss gerechtfertigt? Einmal unterstellt, dass sie wirklich «kulturunabhängig» zu gleichen Ergebnissen kommen, liegt das nicht bloss daran, dass sie sich vorgängig auf die gleichen Begriffe und Verfahren geeinigt haben?


Übersicht

Dieser Text geht auf die nachstehenden Themen ein: Wir glauben, dass die Dinge um uns herum wirklich sind. Es geht hier um die Frage, ob es auch gute Gründe für diesen Glauben gibt. Für viele Belange ist dieser Glaube gerechtfertigt; aber schon für alltägliche Begriffe wie «Intelligenz», «Volk», «Rasse» wird das Problem aktuell: haben diese Begriffe einen Bezug zur Wirklichkeit? Kann man wenigstens für «exakte» Begriffe gute Gründe für den Glauben an ihren Realitätsbezug angeben? Beweisen lässt sich der Realismus nicht. Das lässt sich aus dem Induktionsproblem ableiten. Der Begriff «Schwerkraft», der auf der Newtonschen Gravitationstheorie beruht, kann nur dann auf Wirkliches verweisen, wenn die Newtonsche Gravitationstheorie richtig ist, was wiederum wegen des Induktionsproblems nicht bewiesen, allenfalls widerlegt werden kann.

Nachfolgend werde ich darlegen,

Dabei wird sich zeigen, dass die Bedeutungen von «real» und «objektiv» zwar kulturell, historisch und anthropologisch bedingt, aber nicht beliebig sind.

Der alltägliche Begriff von «Realität» genügt nicht

Für alltägliche Belange begnügen wir uns mit der Gewissheit, die uns unsere Sinne und unser Wissen über die Welt geben, in der wir leben. Wenn wir das Thermometer sehen, das wir gestern im Bierglas vergessen haben, dann brauchen wir uns nicht zu fragen, ob das denn real sei. Anders wäre es, wenn ein Thermometer im Bierglas (Feldschlösschen) auf einem eben von Pathfinder bzw. Sojourner übermittelten Bild zu sehen wäre. Die «Unmittelbarkeit» oder «Gewissheit», die unsere Wahrnehmungen für gewöhnlich begleitet, bedeuten aber nicht, dass sie «wahr» oder verlässlich seien, sondern nur, dass unser Wahrnehmungsapparat unglaublich leistungsfähig ist. Es ist keine Grundlage dafür, Sinneserfahrung als sicher zu nehmen. Es ist im Gegenteil selbst erklärungsbedürftig (und Aufgabe der Evolutionstheorie zu erklären), warum unsere Sinne dermassen leistungsfähig sind. Tatsächlich verweisen gewisse Wahrnehmungen, wie beispielsweise das «Marsgesicht» (Cydonia Gegend), mehr auf die Wirklichkeit unserer Wahrnehmungssysteme als auf die Wirklichkeit ausserhalb derselben.

Unsere Sinne sind natürlich so leistungsfähig, damit sie uns ein Überleben in der «realen» Welt ermöglichen. Sollte man daraus nicht schliessen dürfen, dass sie uns ein zumindestens angenähertes Bild dieser realen Welt liefern? Könnte man nicht einfach das, was unsere Sinne liefern, zur realen Welt erklären?

Aber die Probleme sind zahlreich und offensichtlich:

Für Alltagsbelange bleibt uns nichts anderes übrig, als das, was wir wahrnehmen, als «real» zu nehmen. Aber ich glaube, schon beim abendlichen Fernsehen sollten wir tunlichst davon lassen.

Nicht alle Begriffe haben einen Bezug zu etwas Wirklichem

Viele Begriffe beziehen sich nicht auf unmittelbar Wahrnehmbares

Für Begriffe, die alltägliche Gegenstände bezeichnen, könnte man sich vielleicht trotz dieser Probleme auf die Leistungsfähigkeit der Sinne verlassen und allenfalls Bedingungen festlegen, unter welchen diese Leistungsfähigkeit verlässlich ist. Wie ist es aber für Begriffe wie das eingangs erwähnte Atom, wie ist es mit Elektron, Proton, Temperatur, Energie, Schwerkraft? Keines dieser Begriffe bezeichnet «unmittelbar» Wahrnehmbares, und keines bezeichnet etwas, auf das sich unser Wahrnehmungsapparat im Laufe von Jahrmillionen ein «realistisches Bild gemacht haben» könnte. Selbst wenn wir auf die Evolution unseres Wahrnehmungsapparates als Garant für eine «prästabilierte Harmonie» zwischen unseren Konzepten und der Wirklichkeit vertrauen wollten, selbst dann müssten wir für diese und ähnliche Begriffe besonders feststellen, ob und warum wir darauf vertrauen wollen, dass sie sich auf Reales beziehen.

Von zwei Begriffen der Liste, Temperatur und Schwerkraft, könnte man denken, dass sie der «unmittelbaren» Wahrnehmung zugänglich seien. Dennoch lohnt es sich, ihren Bezug näher zu beleuchten. Schwerkraft selber kann man nämlich nicht fühlen. Was wir fühlen, ist die Anstrengung, die wir brauchen, um uns gegen die Schwerkraft zu bewegen, oder wir nehmen durch Bezug auf Dinge um uns herum wahr, dass wir nach «unten» fallen, wenn wir uns nicht mehr gegen die Schwerkraft wehren. Es ist aber nicht zwingend, diese Dinge als ruhend zu betrachten, wie schon das Galileische Relativitätsprinzip lehrt..

Diese Beobachtung, dass viele Dinge nach unten fallen, wenn man sie lässt, «erklären» wir mit dem Konzept der «Schwerkraft». Das ist aber nur eine mögliche Erklärung, auch wenn es nach heutigem Wissen die beste ist.

Ob der Bezug eines Begriffes real ist, lässt sich nicht beweisen

Durch die lange Reihe von Beobachtungen lässt sich das Konzept der Schwerkraft aber nicht beweisen (Induktionsproblem von Hume). Es gibt kein logisches Verfahren, um von einer Reihe von Beobachtungen, und sei sie noch so ausgedehnt, auf ein allgemeines Konzept zu schliessen. «Schwerkraft» bleibt deshalb ein theoretisches Konzept. Es wird nicht aus den Beobachtungen abgeleitet, sondern es wird gesetzt. Aus dem Konzept, beispielsweise der Newtonschen Gravitationstheorie, lassen sich dann Aussagen ableiten, wie der, dass die Dinge gegen den Erdmittelpunkt fallen. Solange diese und andere Aussagen mit der Beobachtung «übereinstimmen», wird die Theorie beibehalten. Dass das Feststellen von «Übereinstimmung» alles andere als trivial ist, sei hier nur erwähnt.

Aber längst nicht alle Konzepte erwiesen sich als erfolgreich. Das Schwerkraftkonzept nach Newton war es bekanntlich nicht. Obwohl es viele, sehr viele Beobachtungen äusserst genau voraussagt, bleiben doch einige übrig (Lichtablenkung durch die Sonne, Periheldrehung des Merkur), an welchen es versagt. Es kann deshalb nicht wahr sein und es kann sich deshalb auf nichts Wirkliches beziehen. (Dass der Newtonsche Schwerkraftbegriff unter gewissen Bedingungen eine sehr gute Näherung ist für die Wirklichkeit, macht seinen Bezug zur Wirklichkeit nicht besser: Schwerkraft im Sinne der Newtonschen Gravitationstheorie gibt es im realen Universum nirgends.)

Die Bedeutung dieser Tatsache kann gar nicht überschätzt werden: ein äusserst genaues und erfolgreiches Konzept wie das Schwerkraftkonzept, das auf der Newtonschen Gravitationstheorie beruht, ist falsch und hat keinen Bezug zu etwas Realem. Wenn dieses so erfolgreiche Konzept scheitern (als universelles Konzept scheitern; als Näherung ist es innerhalb bestimmter Grenzen sehr wohl brauchbar) konnte, worauf können wir uns dann überhaupt noch verlassen? Genauigkeit alleine mag ein gutes Indiz dafür sein, dass sich ein Konzept auf Reales bezieht, offenbar genügt sie jedoch nicht.

Was «Schwerkraft« ist, ist historisch bedingt

Das Beispiel zeigt weiter, dass selbst «Schwerkraft» ein Begriff ist, dessen Bedeutung sich in der Geschichte ändert. Doch was geschieht, wenn sich der Begriff ändert? Ändert sich dann auch die Kraft selbst? Wahrscheinlich gab es die Schwerkraftwirkung schon vor den Menschen, sie wird es auch noch nach den Menschen geben. Soll man nun glauben, dass deren Begriffsbildungen – sofern sie überhaupt sinnvoll sind – irgendwelche Auswirkungen auf die reale Kraft haben werden?

Diese Frage setzt als gegeben voraus, was erst untersucht werden soll, nämlich dass der Begriff auf etwas Reales verweise. Das Reale selbst steht uns aber nicht zur Verfügung, wir haben nur den Begriff. Eine Änderung des Begriffes würde selbstverständlich keine Auswirkungen auf das Reale haben, das wäre ein «magisches» Weltbild. Doch wir wissen ja noch nicht (und werden es wegen des Induktionsproblems auch nie wissen), ob ein gegebener Begriff sich überhaupt auf etwas bezieht, das unabhängig von der Beobachterin existiert. Genau das soll hier nicht vorausgesetzt, sondern untersucht werden.

Bezieht sich ein Begriff hingegen nicht auf eine unabhängig von der Beobachterin bestehende Wirklichkeit, dann ändert sich das, worauf er sich bezieht, sein Bezug eben, wenn sich der Begriff ändert. Monster und andere Traumgestalten ändern sich sehr wohl, wenn man anders über sie nachdenkt. Hier haben wir einen ersten Schlüssel zur Umschreibung dessen, was eine von der Beobachtering unabhängig existierende Wirklichkeit sein soll.

Woher wissen wir also, ob ein Begriff auf Reales verweist? Wir können das als gegeben nehmen, das wäre die «theologische» Haltung. Theologisch, weil es etwas braucht, das die Übereinstimmung von Begriff und Wirklichkeit garantiert, beispielsweise die Evolution eines Wahrnehmungsapparates. Theologisch nenne ich diese Haltung, weil man dieses «es» auch schon mit «Gott» identifiziert hat.

Teilt man diese «theologische» Auffassung nicht, dann sind die Bezüge unserer Begriffe nicht notwendigerweise gegeben. Es kann sein, dass ein Begriff sich auf nichts bezieht. Begriffe ohne Extension lassen sich in der Geschichte der Naturwissenschaft finden, ausser der Newtonschen Schwerkraft gibt es beispielsweise Caloricum, Phlogiston und andere mehr.

Illustration: Mittelwert von Telephonnummern?

Den Zusammenhang zwischen Begriff und Bezug mag eine Illustration anhand dreier Typen von Mittelwerten veranschaulichen: worin unterscheiden sich der Mittelwert der Körperhöhe der Schüler einer Klasse vom Mittelwert aus der wiederholten Messung des Verhältnisses zwischen Strom und Spannung über einem Ohmschen Widerstand? Der erste ist ein Populationsmittelwert; er repräsentiert die Population, ohne dass es einen «wahren» Wert gäbe.

Der zweite Mittelwert hingegen streut ausschliesslich wegen der Ungenauigkeit der Messung; er steht für den wahren Wert des Widerstandes. Es gibt keine «Population» von Quotienten aus Spannung und Strom über einem Ohmschen Widerstand, sondern nur den einen, wahren Wert.

Völlig sinnlos ist der Mittelwert der Telefonnummern der Schüler der eingangs erwähnten Klasse. So ein Wert bezieht sich auf gar nichts, und es würde auch niemandem einfallen, so etwas berechnen zu wollen – sofern er weiss, dass die ihm vorliegenden Zahlen vom dritten Typ sind.

Ein «objektiver» Begriff und zwei Begriffe, die «Wirkliches» bezeichnen

Was «objektiv» ist, ist historisch und kulturell bedingt

Selbstverständlich ist naturwissenschaftliches Wissen objektiv. Aber was heisst «objektiv»? Am Beispiel der Temperatur sei das verdeutlicht (Näheres zur Temperatur siehe «what is temperature»): Die Temperatur bezeichnet seit Gay-Lussac nicht mehr eine (subjektive) Empfindung; heute ist sie operationell definiert als das, was man mit einem Thermometer messen kann (Für eine exakte Definition muss natürlich auch noch operationell definiert werden, wie man ein Thermometer baut und anwendet). Damit ist also ein Verfahren vereinbart, mit welchem die fragliche Grösse unabhängig von der momentanen Befindlichkeit des Messenden in reproduzierbarer und mitteilbarer Weise bestimmt werden kann. «Warm», die Bezeichnung für eine Empfindung, ist schlechter mitteilbar (der Empfänger der Nachricht erfährt mehr über das Befinden des Senders als über den Zustand des Gegenstandes) als «42 °C», dafür hat letzteres nur für den eine Bedeutung, der die Celsiusskale kennt und ihr zustimmt. Der Begriff ist also nur relativ zu einem kulturellen Prozess objektiv, nämlich dem Prozess der gemeinsamen Einigung auf das Verfahren bzw. die Definition.

Damit wird auch sofort klar, dass und wie objektives Wissen kulturell und historisch bedingt ist: danach bezieht «objektiv» sich auf eine Konvention und ist insofern «objektiv», als sie nicht mehr von der Laune oder dem Geschick oder dem geistigen Zustand etc. des Individuums abhängt, der sie festzustellen hat.

Diese «Objektivität» ist aber weder unabhängig von einer Diskussion (nämlich der um die bestgeeignetste Konvention) noch unabhängig von einer «Kultur» (nämlich der Gemeinschaft derjenigen, die diese Konvention akzeptieren). Sie ist ebenso abhängig davon, welche Begriffe man zu ihrer Festlegung wählt und welche Erkenntnisse man für erkennenswert hält.

«Wirklichkeit» ist nicht beliebig

Ein Begriff, der sich auf Wirkliches beziehen soll, muss objektiv sein. Aber diese Bedingung ist nicht hinreichend, denn das geschilderte Verfahren ist zu beliebig; auf diese Weise kann man alles definieren. Vom Begriff «Wirklichkeit» erwarten wir jedoch eine möglichst geringe Beliebigkeit. Kann für den eingangs erwähnten Begriff «Atom», oder auch für «Temperatur» gezeigt werden, dass er nicht oder möglichst wenig beliebig ist?

Die Atomhypothese

Als J. Dalton 1803 bis 1805 den Begriff des Atoms wiederentdeckte, war das ein blosser heuristischer Begriff zur Erklärung des Gesetzes der konstanten Proportionen chemischer Verbindungen. Auch dass Daniel Bernoulli fast fünfzig Jahre zuvor (1738) den Gasdruck durch eine ähnliche Vorstellung erklärt hatte, liess noch nicht erahnen, dass es sich dabei um ein Konzept handelt, das insofern universell ist, als es zur Beschreibung aller Naturvorgänge dient. Und genau diese Universalität ist es, die Vertrauen in eine hinter dem Begriff stehende, von blosser Definitionswillkür weitgehend unabhängige «Realität» weckt.

«Real» ist, worauf «universelle» Begriffe verweisen

Offensichtlich ist «Temperatur» nicht derart universell. Trotzdem sind wir heute überzeugt davon, dass «Temperatur» etwas «Wirkliches» bezeichnet. Diese Überzeugung ist noch nicht alt. Man muss sich das einmal konkret vorstellen, als man mit schlechten Thermometern versuchte, die Empfindung von «warm» oder «kalt» in reproduzierbare Zahlen umzusetzen. Man wusste ja nicht, was die Ursache dieser Empfindung ist. Oder sind es gar viele Ursachen (es sind!)? Und es war auch nicht klar, mit welchem Verfahren man diese Ursache quantitativ fassen sollte, so es sie gibt, bzw. welche, falls es mehrere sind. Jeder, der sich damit befasste, schlug ein eigenes Verfahren vor und berichtete völlig unterschiedliche Werte beispielsweise für den Gefrierpunkt des Wassers. Man experimentierte auch mit Gasthermometern, an sich eine ausgezeichnete Konstruktionsweise von Thermometern. Aber zu jener Zeit wusste man kaum etwas vom Luftdruck und vor allem nicht, dass er sich je nach Wetter veränderte. Und das Thermometer gab jedesmal andere Werte an! Ein heilloses Durcheinander.

Seit Kelvin (um 1850) Temperatur auf fundamentalere Konzepte (Energie und Entropie) zurückführen konnte, vertrauen wir darauf, dass sie etwas «Wirkliches» bezeichnet. Wiederum deshalb, weil diese Konzepte derart allgemein sind, dass man ihr Wirken bei allen quantitativ erfassbaren Vorgängen nachweisen kann. Temperatur entwickelt sich damit von einem heuristischen zu einem exakten Begriff. Erst seither wissen wir auch, womit Thermometer kalibriert werden müssen; «Härte» kann man nicht in diesem Sinne «absolut» kalibrieren. Hierin liegt auch die praktische Bedeutung der Frage, ob einem Begriff Realität zugrunde liegt.

Es ist also diese «one fits all» Gegebenheit, die unser Vertrauen in den «Realismus des Begriffes» (die Existenz eines Bezuges zur Wirklichkeit) begründet. Ein Konzept, das speziell für einen Fall zusammengeschustert wurde, ist weniger vertrauenswürdig als eines, das sehr viele Fälle «erklären» kann. Beweist es aber, dass es das Wirkliche gäbe? Nein, natürlich nicht, wie oben am Beispiel der Newtonschen Gravitationstheorie dargelegt wurde.

Nach diesem Vorschlag bezeichnen also «Atom», «Entropie» und «Energie» gleichermassen Reales (diese Aufzählung will nicht vollständig sein). Was für «real» gehalten wird, hängt wiederum davon ab, was man für «universell» hält, und ob man diesen Vorschlag überhaupt akzeptiert. So gesehen hängt auch «Realität» von Kultur, von Geschichte und wohl auch von Artspezifischem ab.

Drei Begriffe, deren Bezug auf Wirklichkeit nicht geklärt oder nicht vorhanden ist

Es gibt in den Naturwissenschaften auch Begriffe, deren Bezug zu Wirklichem nicht geklärt ist, was die Möglichkeit offen lässt, dass dieser Bezug nicht existiert. Beispiele sind Härte, Reibung, Elektronegativität. Bezeichnend dafür ist, dass es für «Härte» viele unterschiedliche (operationelle) Definitionen gibt, gerade wie für die Temperatur vor Kelvin. Je nach Anwendungszweck eignet sich die eine oder andere Härte besser. Es gibt bis heute keine Möglichkeit, um «Härte» auf fundamentale Grössen zurückzuführen wie beispielsweise Atome und Bindungsenergie. Selbstverständlich erhält man mit jeder dieser Definitionen unterschiedliche Härten; ohne exaktes Konzept kann man nicht sagen, welche «die Richtige» sei, noch kann man sicher sein, dass die Rangfolgen von Härten nicht von der Methode abhängen. Ebensowenig kann ausgeschlossen werden, dass ein Material A ein anderes B ritzt, also «härter» ist, B seinerseits C ritzt, aber C wiederum A ritzt. Das erscheint «unlogisch», vor allem wenn man die Aussage umformuliert: Es erscheint deshalb unlogisch, weil der Term «härter» hier auf eine (für «real» gehaltene) vom Messverfahren unabhängige, skalare Grösse bezogen wird, von dem die Materialien A, B, C unterschiedlich viel «haben» sollen; unwillkürlich wird «härter als» durch den Operator «>» ersetzt. Diese Operation ist aber ohne Wissen darum, was «Härte» genau «ist», also auf welche Realität sich der Begriff bezieht, nicht zulässig.

Wertigkeit ist nicht real, aber anschaulich

Etwas vergleichbares ist die «Wertigkeit» von Elementen. Das ist eine anschauliche Grösse, die angeben soll, wieviele «Bindungen» eine Atomsorte eingeht. Sie ist vor allem in Chemielehrbüchern der unteren Stufen beliebt. Dem Konzept nach soll «Wertigkeit» eine Eigenschaft sein, die einer Atomsorte allein zukommt. Auch dieser Begriff verweist auf nichts Reales. Die chemischen Eigenschaften von Molekülen und Atomen werden durch ihre Wellenfunktion beschrieben. Eine Eigenschaft, die dem Begriff von «Wertigkeit» von Atomen entspricht, lässt sich daraus nicht ableiten. Anthropomorph ausgedrückt, ein Atom «weiss» nichts von «seiner» Wertigkeit.

Der Begriff kann scheinbar gerettet werden, indem man «Wertigkeit» nicht als eine Eigenschaft von einzelnen Atomen versteht, sondern als Eigenschaft von gebundenen Atomen; Die «Wertigkeit» eines Atoms hinge damit vom Bindungspartner ab.

Damit verliert der Begriff aber jegliche Voraussagekraft und ist auf reine Metaphorik reduziert. Aus der Tatsache, dass Kohlenstoff mit Wasserstoff vierwertig ist, kann keinerlei Erwartungswert über die Wertigkeit von Kohlenstoff mit Sauerstoff gewonnen werden. Eine ähnlich «unlogische» Reihe wie bei der Härte erhält man unschwer auch mit der Wertigkeit, wenn man wie dort Wertigkeiten fälschlich als Grössen auffasst, auf die die Operatoren «=», «<» und «>» angewandt werden dürfen. Bezogen auf die Wertigkeit gälte dann beispielsweise:

Begriffe wie «Wertigkeit» oder auch «Elektronegativität» und andere verweisen also auf nichts Wirkliches, sie sind aber schön anschaulich; in dieser Hinsicht teilen sie das Schicksal der Newtonschen Schwerkraft, ohne aber an deren Präzision heranzukommen.

«Rasse», «Intelligenz», «Volk»

Die Anwendung obiger Erkenntnisse auf diese drei eingangs erwähnten Begriffe steht mir mangels weitergehender Kenntnisse nicht zu. Bei «Rasse» und «Volk» wurden meines Wissens keine ernstzunehmenden Versuche unternommen, die Begriffe zu quantisieren. Anders bei «Intelligenz», von welcher wir alle glauben, diese hätte mehr davon und jener weniger. Ich möchte die Leserin und den Leser anregen, das bei «Härte» bzw. «Wertigkeit» Ausgeführte in Bezug auf die Anwendbarkeit auf «Intelligenz» zu prüfen; einige bemerkenswerte Gedanken dazu hat A. K. Dewdney in «Spektrum der Wissenschaft» (1986) geäussert.

Was real ist und was objektiv ist, ist historisch, kulturell und anthropologisch bedingt

An die Aussage muss man sich gewöhnen, denn es ist gewiss nicht üblich, die Realität der Dinge zu hinterfragen. Wir sind es gewohnt, diese vorauszusetzen. Hier sollte sie aber eben nicht vorausgesetzt, sondern untersucht werden. Dabei wurde präzisiert, in welchem Sinne die Aussage zu verstehen ist.

Aus diesen Ausführungen sollte hervorgegangen sein, dass historisch, kulturell und anthropologisch bedingtes Wissen aber beileibe nicht beliebig ist. Es ist ein Qualitätsmerkmal eines Begriffes, notwendig zu sein. An Beispielen wurde gezeigt, dass naturwissenschaftliche Begriffe dieses Merkmal unterschiedlich gut erfüllen.


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Diese Gedanken sind aus meiner Beschäftigung mit thermodynamischen Begriffen entstanden und haben in Diskussionen bereits etwas Gelegenheit zum Ausreifen erhalten. Jedoch ist nichts so gut, dass es nicht verbessert werden könnte. Am meisten habe ich aus meinen Versuchen gelernt, gute Fragen zu beantworten. Wenn man also etwas nicht verstehst oder etwas genauer wissen möchte, so nehme man einfach an, ich hätte es zuwenig genau erklärt und frage nach. Die Annahme ist sicher gerechtfertigt, da ich auf Vieles bei weitem nicht in wünschenswerter Ausführlichkeit eingehen konnte, ohne die Geduld meiner Leser noch mehr zu strapazieren.


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Last update Sep. 2001 gVa